NORD AMERIKA, MOJAVEWÜSTE

> INHALTSVERZEICHNISS

Der Würgeengel

Der Rennkuckuck

 Die Speisekarte liest sich wie das Inventarverzeichnis eines
Gruselkabinetts:Klapperschlangen, Skorpione, Taranteln, giftige Raupen, Hundert- und Tausendfüßer, Wespennester, Ratten, Eidechsen und Heuschrecken - eben alles, was in der Wüste sein gespenstisches Unwesen treibt. Gourmet dieser schmackhaften Dinge ist ein kaum pfundleichtes, hühn­chenkleines Vögeichen: der Rennkuckuck, aus Wildwestgeschichten und Zeichentrickfilmen auch als »Roadrunner« bekannt, also als »Straßenflitzer«.

 Um ihn zu studieren, fahren wir vom ameisenhaften Auto­quirl Los Angeles in wenigen Stunden Richtung Osten in eine der phantastischsten Mondlandschaften auf Erden, zum Joshua-Tree-Nationalpark. Die Bezeichnung »Joshua Tree« ist irreführend, denn bei dem Reservat handelt es sich nicht um eine Waldlandschaft mit einer bestimmten Baumart, son­dern um eine lebensfeindliche Einöde, Teil der berüchtig­ten Mojavewüste, mit verwitterten Resten einstiger Gebirge, himmelwirts getürmten, rundgeschliffenen Felsen, die einer dichtgedrängten Herde gigantischer Superelefanten gleichen.
In einem Teil des Nationalparks wachsen neben den bizarren Joshua-»Bäumen«, die sich als bis zu drei Meter emporragende Yucca-Palmlilien entpuppen, die höchstens mannshohen Chollakakteen. Sie benutzt der Rennkuckuck neuesten Forschungen zufolge als Werkzeug und regelrechte Waffe, um Klapperschlangen zu töten, die erheblich größer sind als der kleine Wicht.

 Zum Selbstschutz ist der Kaktus mit drei Zentimeter langen, kräftigen, nadelspitzen Dornen gespickt. Diese sitzen auch ringsum an den Ablegern, mausgroßen Sprossen am äußersten Ende jedes Stachelzweigs. Berührt man so ein »Igelchen« nur sanft mit der Hose, bleibt es hängen wie eine Klette. Arn Fell etwa eines Kojoten natürlich auch. Einige Zeit später, wenn das Tier weitergewandert ist, trocknet das Stachelding ein, fällt von selbst ab und treibt im nächsten Regen Wurzeln. Ein wirkungsvolles Mittel des Chollakaktus, sich weit auszubreiten.

Rennkuckuck beim Angriff auf SchlangeDem Rennkuckuck dient es zu einem ganz anderen Zweck. Entdeckt er in aller Morgenfrühe eine an der Wüstenoberfläche schlafende Klapperschlange, pflückt er dutzendweise diese Stachelableger mit dem Schnabel und legt sie als geschlossenen Stacheldrahtzaun von sechs Zentimeter Höhe rings um das Opfer herum. Dann flattert er hoch - Virginia Donglas, Zoologin an der Universität von San Diego, kann es bezeugen -, bombardiert das Reptil mit mehreren Kakteen­stückchen, weckt es dadurch auf und versetzt es in Panik. Die Schlange versucht zu fliehen und spießt sich selbst dabei am Zaun auf. Je mehr sie tobt, desto öfter wird sie durchbohrt. Der Tod tritt nach etwa einer halben Stunde ein. Der »Speisesaal« ist zum Verzehr angerichtet. Einzigartig in der gesamten Tierwelt!
Dort, wo keine Chollakakteen wachsen, können die Fußgängervögel Klapperschlangen von bis zu einem Meter Länge auch in direktem Angriff erlegen. Allein oder Männchen und Weibchen gemeinsam, flattern sie hoch und scharren dem Kriechtier Sand in die Augen. Da diese nicht durch Lider geschützt sind, wird das Reptil in der Sicht behindert. Im rechten Moment stoßen die Vögel von oben zu, fangen die Gegenangriffe des Feindes mit den Flügeln als Schutzschilden so lange geschickt ab, bis ihnen ein Volltreffer in den Kopf gelungen ist. Anschließend verschlingen die kleinen Würgeengel die ganze, bis zu einem Meter lange Schlange in einem Stück! Sind sie doch einmal vom Giftzahn geritzt worden,fressen sie gleich darauf ein paar Blätter vom Huacokraut, also derselben Naturmedizin, die auch die Indios im mexikanischen Bundesstaat San Luis Potosi nach einem Schlangen­biß benutzen!

 Gegen Skorpione geht der kleine Vogel ganz anders vor. Im Abstand von etwa zehn Metern spreizt er seinen Federschopf wie ein Kakadu, entblößt den rot-weißen Schläfenstreifen, streckt den Kopf am langen Hals waagerecht nach vorn, während der lange, dünne Schwanz wie ein Scheibenwischer hin und her pendelt, und flitzt wie ein Indianerpfeil blitzartig nach vorn, wobei er ein Tempo von bis zu 6o Stundenkilome­tern erreicht. Er ist also doppelt so schnell wie ein Olympiasieger im Hundertmeterlauf. Aus vollem Lauf schnappt er nach dem Giftstachelschwanz des kurzsichtigen Skorpions, reißt ihn mit einem Ruck ab und verspeist dann seine »Hummer«-Mahlzeit mit Wohlbehagen.
Sieht er eine Tarantel im Erdloch verschwinden, pflückt er mit dem Schnabel dürre Grashalme, bündelt sie zu einem Büschel und streicht mit diesem Reizinstrument der Giftspinne' über den Kopf wie mit einem Pinsel und hüpft gleich 25 Zentimeter zur Seite. Die Tarantel hüpft heraus... ins Leere. Und schon hat ihr der Rennkuckuck blitzschnell ein Bein amputiert. Oft kommt dann noch sein Weibchen herbei und kneift von hinten das zweite Bein ab, während er das Opfer von vorn ablenkt. So geht das weiter, bis der Tarantel alle acht Beine abmontiert worden sind und sie völlig wehrlos am Boden liegt. Beide Vögel teilen sich dann die Beute.

 Bei einem anderen Beutetier zeigt der Renner, daß er den Namen »Kuckuck« zu Recht trägt. Wie alle Kuckucke frißt er gern Raupen, von denen in den Wüsten des amerikanischen Westens überwiegend jene des Prozessionsspinners leben. Diese tragen jedoch einen dicken Pelz giftiger Haare, die bei Berührung die unangenehme Wirkung von Brennesseln haben. Alle anderen Vögel schrecken davor zurück. Der Straßenflitzer kennt jedoch spezielle »Tischmanieren« angesichts dieser Speise. Er faßt den Raupenkopf mit der äußerstenSchnabelspitze und saugt das Tier ganz langsam wie Spaghetti in den Rachen. Dabei scheren die rasiermesserscharfen Schnabelkanten die Haare der Raupe sukzessive ab, als wäre sie ein Schaf.

 Die giftbissigen Hundertfüßer (die höchstens 52 Füße besitzen) und die Gift ausdünstenden Tausendfüßer (die höchstens 500 Füße haben) verschwinden ohne Aufhebens wie dicke Nudeln im Vogelschlund.
Im Umland amerikanischer Ortschaften in Kalifornien, Arizona, Nevada, New Mexico und Texas ist der Roadrunner neuerdings zu einer originellen Plage geworden. Auf Golfplätzen verbirgt er sich im Busch. Wird dann ein Ball über mehrere hundert Meter abgeschlagen, flitzt der Vogel wie ein geölter Blitz hinterher, erwischt die Kugel, kurz nachdem sie wieder den Rasen berührt hat, und verschluckt sie im Nu. Daran eingegangen ist noch keiner. Ob der Ball mit dem »Gewölle« wieder ausgeschieden wird, darüber schweigen sich die Golfclubs leider aus.
So zahlreich die Beutetiere, so groß auch die Menge der Feinde. Rotluchs und Katzenfrett sind hinter dem Vöglein her wie der Teufel hinter der lieben Seele. Verwilderte Hauskatzen versuchen ebenfalls ihr Glück, jedoch vergebens. Denn der Vogel kehrt sogleich den Spieß um. Im Zickzackspurt mit 49,1 Stundenkilometern sieht jeder Dachhase sehr alt aus. Der Vogel gleicht dann einem »Pfeil mit Federn«. Ein Schritt greift bis zu 65 Zentimeter Raum. Bei 21 solchen Trippelschritten pro Sekunde (!) erreicht er ein Höchsttempo von 100 Metern in 7,3 Sekunden. Das ist erheblich schneller, als jeder Olympiasieger spurten kann. Gibt es dennoch einen kriti­schen Moment, so tut der Fußgängervogel etwas, das er sonst unterläßt: Er fliegt, wenngleich nur ein paar Meter auf den nächsten Kaktus oder Baum. Meist aber setzt sich der Verfolgte mit unnachahmlicher Kurventechnik gleich hinter den Verfolger und hackt ihn in ein gewisses Löchlein. Das wirkt im eigentlichen Sinne des Wortes durchschlagend.


 Bedrohlicher wird es, wenn ein Rotschwanzbussard oder ein Steinadler am Himmel kreist, Dann heißt es, so schnell wie möglich unter einem Dornbusch zu verschwinden. Einmal sah ich, wie ein Schwarzflügel-Gleitaar angriff. Der Sturzflug in den Busch wäre ihm schlecht bekommen. So landete er neben ihm und wollte per pedes eindringen. Doch das war sein Fehler. Als Fußgänger war der viel kleinere Rennkuckuck dem großen Greif haushoch überlegen. Sogleich flitzte er wieder hervor und malträtierte den Räuber »von allen Seiten gleichzeitig« mit Schnabelhieben. Nur mit Mühe konnte sich der Gleitaar wieder in die Lüfte retten.

 Um so erstaunlicher ist das Verhältnis der Roadrunner zu den kleineren Schopfwachteln, so genannt nach einem kessen Federbusch auf dem Kopf, der wie bei einem Hotelportier schwankend nach vorn im Bogen überhängt. Beide können zwar fliegen, verlassen sich aber lieber auf ihre Füße. Beide bewohnen dasselbe Wüstengebiet. Mit Leichtigkeit könnte der Straßenflitzer den kleinen Mitbewohner töten, seine Eier und Küken gar verschlingen. Aber er tut es seltsamerweise nicht. Hier ist er ein Engel ohne alle Würgeeigenschaften.

 Allerdings gibt es auch keine Interessenüberschneidungen. Der eine ist ein unersättlicher Fleischfresser, der andere ein reiner Vegetarier. Oft fliehen beide vor einem Greif unter denselben Dornbusch. Mitunter piepsen dann zehn oder mehr Wachtelküken dem großen Piraten vor dem Schnabel herum. Aber er denkt nicht daran, eines zu verschlucken. Auch trinken beide gelegentlich am selben Wasserquell, etwa einem trop­fenden Wasserhahn bei der Rangerstation des Joshua­Tree-Nationalparks in Nähe der Ortschaft Twentynine Palms.
Freundschaft kann man das Verhältnis nicht nennen, eher einen Nichtangriffspakt zum Vermeiden von Streit. Was nicht immer ganz gelingt. Werden die Wachtelküken dem Kuckuck zu keß, jagt er sie ein paar Meter vor sich her. Niemals aber krümmt er ihnen eine Feder! Umgekehrt attackieren auch Wachteln den größeren Vogel, wenn er ihnen zu dicht auf die Pelle rückt. Dann verlangen es die Spielregeln, daß der Stärkere Reißaus nimmt, ohne sich zur Wehr zu setzen.

  Die Beziehung des Roadrunners zum Menschen ist von seiten des Tieres von äußerster Vorsicht geprägt. Zu oft wurde er von Jägern geschossen. Durch beharrliches Füttern kann man den Vogel aber zum guten Freund machen. Bei Twentynine Palms lebt ein alter Farmer im Ruhestand. Er frühstückt ausgiebig im Bett, das hernach voller Krümel ist. Dann öffnet er das Fenster, und herein flattert »sein« Rennkuckuck, um alle Essensreste über und unter der Bettdecke zu beseitigen. Allerdings muß der Farmer seine Mahlzeit täglich exakt zur selben Minute beenden. Denn der Vogel weicht nie von seinem monotonen Tagesfahrplan ab. Alltäglich läuft er beutesuchend auf stets den gleichen Wegen sein Revier ab - auf ein bis zwei Minuten genau. Man kann seine Uhr danach stellen!

  So unersättlich das Vöglein ist, so sparsam geht es als Wüstenbewohner mit seiner Energie um. Die Nächte können sehr kühl sein. Um dann den inneren Ofen seines Körpers nicht unnötig aufzuheizen, sinkt seine Temperatur während der Nachtruhe auf einem Joshua-»Baum« von normal 37 auf nur noch 30 Grad Celsius. Bei Sonnenaufgang, wenn er er­wacht, ist er ganz steifgefroren, wie alle Eidechsen und Schlangen auch. Könnte er diese klammen Gestalten jetzt überraschen, wäre das für ihn von großem Vorteil. Doch hindert ihn daran nicht die eigene Unbeweglichkeit?
Um dieses Problem zu meistern, holt der Wundervogel ein weiteres As aus seinem »Ärmel«. Er, und nicht der Mensch, ist nämlich der »Erfinder« der Solarzellen. Seine rosafarbene Haut besitzt auf dem Rücken schwarze, federlose Flächen. Lüftet er die Flügel an, kommt diese Energiegewinnungsanlage zum Vorschein und absorbiert die Sonnenwärme. Der Vogel stellt sich dann mit dem Rücken genau in die Strahlen der aufgehenden Sonne. Binnen 20 Minuten und eher als Feind oder Beute ist der Rennkuckuck zu Rennhöchstleistungen bereit.

Wird der »Straßenflitzer« eigentlich seinem Ruf als Kuckuck gerecht? Nicht ganz. Er ist kein sogenannter Brutschmarotzer wie der europäische Kuckuck, obwohl er zur selben zoologischen Familie gehört. Männchen und Weibchen ziehen ihre bis zu sechs Jungen selbst auf. Aber mitunter gibt es Situationen, die eine Ahnung dessen vermitteln, wie das Unterjubeln der eigenen Eier bei fremden Weibchen einst entstanden sein könnte.
Manchmal liegen nämlich statt der bei diesen Vögeln üblichen sechs Eier deren zwölf in einem durch einen Kakteenstachelverhau gesicherten Nest. Dann betreibt der »Herr« Bigamie. Während sich im Fall der Einehe die Mutter die Arbeit des Brütens mit dem Männchen teilt, will jede »Konkubine« ihre Eier von den beiden anderen ausbrüten lassen und macht sich aus dem Staube. Das bedeutet, daß nun beide »Damen« durch Abwesenheit glänzen. So bleibt die Arbeit für das Doppelgehege allein am Männchen hängen.

  Vielleicht ist dies der Anfang zum Brutschmarotzertum unter den Kuckucksvögeln.
Alles in allem bietet uns der »Straßenflitzer« das Bild gera­dezu virtuosen Meisters der lebensfeindlichen Wüstenland­schaft. In Jahrhunderttausenden hat er seine Fähigkeiten zur Perfektion entwickelt. Recht übel sind jedoch jene Tiere dran, die gleichsam als Neulinge in der Wüste leben müssen: etwa die Bärenpaviane, die aus angenehmeren Regionen in die Todeszonen abgedrängt wurden.

Für alle Textinhalte und Fotos gilt ©2010 by Vitus B.Dröscher, Für alle Zeichnungen©2010 by Till Claudius Dröscher ; Hamburg
<Home> <Vita> <Expeditionen> <Bücher> <Englisch> <Chinesisch> <Fotos> <Impressum>