AUSTRALIEN

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Crocodile Dundee

Überlebenstricks des Jacanas

 Gemütlich tuckert unser kleines Motorschiff im Nordterritorium Australiens den Adelaide River stromauf. In den Wipfeln der Uferbäume kreischen unübersehbare Vogelscharen. Der Kakadu-Nationalpark ist nicht weit. Doch nirgends kann ich Krokodile, deren Anblick mir vor Fahrtbeginn versprochen worden war, entdecken. Als ich das moniere, lächelt der Skipper verschmitzt und hält eine Art robuster übergroßer Angel über Bord, an deren Haken ein zwei Kilo schwerer Fleischbrocken vier Meter hoch über dem träge dahinfließen­den Wasser hängt. Will er mit dem Gerät Krokodile fischen?

 Wenige Minuten später schauen ringsum sechs Augenpaare aus der grauschlammigen Brühe, schieben sich, wie vom Magneten angezogen, auf uns zu. Plötzlich ein Wasserschwall. Senkrecht springt ein Biesenkrokodil aus dem Was­ser und schnappt nach dem Fleisch. Seine Kiefer krachen dermaßen geräuschvoll zusammen, daß man meint, jemand schlage eine Holztür mit aller Wucht zu. Solche Kraft verbirgt sich hinter den Freßwerkzeugen. Die Zähne scheinen das auszuhalten. Doch wie kann das Leistenkrokodil, mit bis zu sieben Metern Länge und 1000 Kilogramm Gewicht die größte heute noch lebende Panzerechse, vier Meter hoch aus dem Wasser springen? Stößt sie sich vom Flußgrund ab? Unmöglich! Denn der ist hier sieben Meter tief. Vielmehr krümmt die Echse ihren Leib wie eine Stahlfeder zusammen, läßt ihn ruckartig auseinanderschnellen und katapultiert sich auf diese Weise in die Luft.

 Wenn das die Angler am Flußufer wüßten! Hier leben auf 100 Kilometer Flußlänge 1200 Leistenkrokodile, aber überwiegend unsichtbar abgetaucht in einem Paradies aus Lotusblüten und Seerosen. Zwar ist das Ungetüm als Menschenfresser gefürchtet, aber da es sich meist verbirgt, nehmen es die Sportfischer leichtsinnigerweise nicht für voll. Wird dann einer vermißt, so läßt nur noch ein »verlassener« Eimer mit Regenwürmern das Drama vermuten, das sich hier abgespielt hat.

 Seltsamerweise hat dieses Urweltmonster einen kleinen Engel im Gefolge. Als »Jungfrau im Land der Drachen« könnte man ein graziles, kunterbuntes Vöglein bezeichnen, das ausgerechnet in unmittelbarer Nähe der Leistenkrokodile lebt, von den fisch- und vogelfressenden Ungeheuern nur durch hauchdünne Seerosenblätter getrennt: das 150 Gramm leichte Blatthühnchen, auch Australische Jacana genannt, »Jesus-Christus-Vogel«, weil er übers Wasser laufen kann, oder auch Lotosvogel oder »Das Vöglein im Krokodilteich«. Je erstaunlicher ein Tier, desto mehr Namen hängt ihm der Mensch an.

Jacana  Um dieses Wunderwesen, eine Art »Crocodile Dundee«, zu beobachten, fuhr ich, begleitet von John Lord, 130 Kilometer nach Osten zum West-Alligator River. Alligatoren gibt es dort allerdings nicht. Vor 200 Jahren wurde der Fluß von zoologisch wenig bewanderten “Entdeckerri“ so genannt, und die­ser Falschname hält sich hartnäckig bis heute. Dafür wimmelt es hier von Leistenkrokodilen, die eigentlich Salzwasser - und Meeresküstenbewohner sind, aber auch weit ins Süßwas­ser nordaustralischer sowie süd- und südostasiatischer Flüsse vordringen. Auch einige der mit drei Metern viel kleineren Australienkrokodile sind hier anzutreffen.
Mitten unter ihnen spazieren die bezaubernden Jacanas, als könnten sie mit magischer Kraft auf dem Wasser laufen! Doch sie stolzieren flink nur auf Seerosen- und Lotusblättern umher. Und zwar ohne einzusinken, weil die 25 Zentimeter kleinen und federleichten Akrobaten 20 Zentimeter spannende Zehen besitzen, also auf sehr großem Fuße leben. In Relation zu anderen Gefiederten haben sie die längsten Zehen der Vogelwelt! Den Lauf übers Wasser beherrschen sie so perfekt, daß sie nur selten schwimmen oder fliegen. Wenn die landscheuen Wasservögel doch einmal festen Boden aufsuchen müssen, staksen sie unbeholfen wie ein Zirkusclown mit viel zu großen Schuhen umher. Ihr Leben auf Seerosenblättern ist eine raffinierte Strategie, den vielen Feinden aus dem Weg zu gehen: Die Krokodile sehen die Vöglein nicht, wenn sie auf Lotusblättern spazieren, Landraubtiere dringen durch den dichten Lotusdschungel nicht bis zu ihnen vor, Greifvögel würden versinken, wenn sie beim Beuteschlagen eine Landung versuchten.

  Und Nahrung finden die »lebenden Seerosen« in diesem Biotop konkurrenzlos in Mengen: Lotossamen, Insekten, Spinnen, Schnecken, kleine Fische und Krebschen.
Ihr Eheleben gilt als Ideal aller Frauenrechtlerinnen. Eine dieser Damen sagte einmal, sie begreife die Natur nicht. Das Kinderkriegen, zu dem die Männer unfähig seien, wäre doch eine so schwere Arbeit, daß es biologisch sinnvoller sei, wenn die Männer wenigstens die Hauptlast bei der Betreuung der Kinder trügen. Genau diese Forderung wurde vom Jacana­blatthühnchen verwirklicht.

 Zu Beginn der Brutzeit landen erst die Männchen im Lotusparadies, kämpfen untereinander, halten Abstand zueinander und sichern sich ein Brutrevier von nur etwa 20 Metern Durchmessern. Sobald dies geschehen ist, erscheinen die Weibchen. Jedes erstreitet im Gefecht gegen andere »Damen« vier Reviere samt deren Männchen. Mehr sind im Herrenharem nicht erwünscht, da ein Weibchen nur den Eiersegen für vier Männchen produzieren kann: für jedes zweimal vier Eier, insgesamt also etwa 32 Stück.
Den »Herren« bleibt keine Wahl. Sie müssen die »Frau« freien, die sie erobert hat. Diese lebt also in vierfacher Vielmännerei. Wird sie von einer Konkurrentin vertrieben, akzeptiert jeder Mann sogleich die neue Herrin. Kommen sich zwei Männlein im Herrenharem zu nahe, setzt es Prügel - bis die etwas größere Chefin mit knallrotem Kamm auf dem Kopf herbeieilt und den Streit mit Schnabelhieben schlichtet. Wor­aufhin sich der Kamm der Männchen zum Zeichen der Un­terwerfung von Rot auf Gelb umfärbt. Der Hahnenkamm der Jacanas kann seine Farbe wechseln wie ein Chamäleon und ist ein perfektes Stimmungsbarometer.

 Die Paarung gleicht einer höfischen Zeremonie. Die Braut übernimmt bei der Balz die aktive Rolle, die bei anderen Tieren gewöhnlich Angelegenheit des Männchens ist. Der Bräutigam geht vor ihr in die Knie, bettelt sie um Liebe an wie ein Küken um Futter. Dann nimmt der galante Herr einen ganzen Blumenstrauß von Blättern und Lotusblüten in den Schnabel und schwenkt ihn hin und her. Beide schreiten stelzbeinig umeinander, den Kopf tief nach unten geneigt und unter heftigem Grunzen, Pfeifen und Glucksen. Das kann Stunden dauern. Die Hochzeit selbst ist dann nur noch eine Sache von wenigen Sekunden.

  Das Nest schwimmt auf einem Fluß, einem Seerosenblatt über jederzeit in der Tiefe lauernden Krokodilen. So sehr der stolze Hahn bisher mit fülligen Blumensträußen im Schnabel als symbolischem Nistmaterial »Sieh her! Ich kann Nestchen bauen!« angegeben hat, so mickrig fällt nun das Gebäude aus: Lediglich ein paar vom Vater dahingeschluderte Hälmchen deuten vage den Brutplatz an. Ein seltsam provisorisch anmutender Nestbau, an dem sich die Mutter gar nur mit symbolischen Gebärden beteiligt. Jedes der vier nicht in Haremsversammlung, sondern auf Distanz nistenden Männchen bekommt von der Chefin nacheinander drei bis vier Eier aufs Blatt gelegt und hat ab sofort sämtliche Mutterpflichten allein zu übernehmen: Brüten, Wärmen der Küken und sie ins Leben führen, Nahrung zeigen und wie man Feindgefahren meidet.

  Mit der Brut beginnt für den zierlichen, gefiederten »Crocodile Dundee« ein wäßriger Balanceakt im Schaukeltakt der Wellen. Aber keine Angst: Wenn ein Ei ins Wasser rollt,
bleibt es oben schwimmen - einzigartig in der Vogelwelt! Eine blankpolierte wasserdichte Wachsschicht über der Eischale und eine Gasblase im Inneren machen es möglich. Papa rollt seinen Schatz dann einfach mit dem Schnabel wieder aufs Blatt. Oft tritt er auch auf das Blatt. Dann sinkt es hin, und das Wasser umspült die Eier: eine willkommene Kühlung unter äquatornaher Mittagssonne.
Also eine Brut mit Wasserspülung? Nicht immer. Nachts und in der Morgenfrische schaufelt sich der Vater die Eier mit zweieinhalb Zentimeter langen Hornleisten am Flügelbug unter die Achselhöhlen und klemmt sie wie ein Fieberthermometer fest: zwei unter jede Schulter. Ähnlich verfährt er mit den Küken, die nach 23 Bruttagen schlüpfen. Sie können gleich laufen, schwimmen und tauchen. Auch fangen sie ihre Nahrung selbst: Spinnen, Würmer, Krebschen. Fliegen und Wespen erhaschen sie im Flug. Letztere stippen sie zum Entgiften ins Wasser. Alle 20 Minuten klemmt sich Papa die vier Kinderchen für fünf bis zehn Minuten unter die Achselhöhlen Trocknen und Wärmen. Erhebt er sich dabei, sieht man acht kleine Beinchen aus dem Federflausch nach unten baumeln. Bei Gefahr transportiert er seine Kinder auf diese Weise auch in Sicherheit.

 An Gefahren mangelt es nicht. Jüngere und kleinere Krokodile schleichen sich unter Wasser an. Sie erkennt der Vater, der sich allein um seine Nachkommen kümmert, mit Argusaugen und versteckt seine Kinder im einige Zentimeter höher gelegenen Trichter eines Lotusblattes. Auch über Wasser naht oft nichts Gutes. Als unser Boot auf solch ein Seerosennest zutrieb, riß Vater Blatthühnchen nicht etwa aus, obwohl er vor Angst am ganzen Leibe bebte. Er rief sein stärkeres Weibchen zu Hilfe. Prompt eilte die Heldin herbei. Was können die Federgewichte gegen Feinde ausrichten, etwa gegen den hundertmal größeren Elsterreiher, der gern Eier oder Küken verspeist? Erst versuchen beide Eltern, den Räuber mit Gezeter zu vertreiben. Einer kreischt ihn von vorn an, während ihn der andere mit den Hornleisten am Flügelbug auf den Rücken prügelt. Diese harten Gebilde dienen also nicht nur als Eierlöffel zum Retten des Geleges, sondern auch als Hiebwaffe gegen Feinde. Zeigt das keine Wirkung, miauen die Jacanas wie Katzen. Prompt fällt der Reiher auf den Trick herein, glaubt, ein Zimmertiger greife an, und flieht.

Kreist ein Pfeifweih, ein bussardgroßer Greifvogel, in der Luft, springen die Küken vom Seerosenblatt ins Wasser und verstecken sich darunter. Dann schaut nur die Spitze des Schnäbelchens wie ein Schnorchel zum Atmen millimeter-weit in die Luft. Das Küken spielt U-Boot und entgeht so den meisten Feinden.
Im Alter von fünf Wochen können die Jungen fliegen. Doch schon einige Tage zuvor hat sie der bemutternde Vater verlassen. Der Grund: Die Mutter hat ihm bereits weitere vier Eier ins Lotusnest gelegt. Damit es dem Vater nicht an Arbeit mangelt!

So erzählt uns das Australische Blatthühnchen gleich einer Märchenfee, zu welch skurrilen Eskapaden die Natur fähig ist, wenn extreme Lebensbedingungen es erfordern. Auf Umwegen will es uns damit auch sagen, daß die Umstände der menschlichen Existenz in vermeintlicher Sicherheit alles an­dere als »normal« sind. Jedes Wesen lebt, allegorisch gesehen, am Rande eines Krokodilrachens. Das gilt sogar auch für die Hausschafe, die in einigen Regionen der Welt keineswegs ein behütetes Dasein wie in Abrahams Schoß führen.

Für alle Textinhalte und Fotos gilt ©2010 by Vitus B.Dröscher, Für alle Zeichnungen©2010 by Till Claudius Dröscher ; Hamburg
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